Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Linkspartei.PDS: November 2005
... s' Vaterland ist kapitalistisch bis auf die Knochen
1988 lief im westdeutschen Fernsehen ein Dokumentarfilm über Glanz und Elend des Kapitalismus in Brasilien. Die Aufseher hatten da noch eine Peitsche, die Latifundistas waren im Prinzip Herren über Leben und Tod und die Plantagenarbeiter schliefen nach vierzehnstündigem Arbeitstag mit Hungergefühlen in Elendshütten ein. Aus deren Not saugten viele ihren Profitanteil. Insonderheit US-amerikanische Konzerne. Doch auch die Deutsche Bank ging nicht leer aus. Folgerichtig daher der Spruch unter einem Heiligenbild im Wohnzimmer eines Gutsbesitzers: Gott schütze uns vor Krankheiten und dem Kommunismus.
Dies ist der rohe Antikommunismus. Er herrscht vorwiegend da, wo die Ausbeutungssitten ohne Umschweife roh und Verzweiflung und Haß der Ausgebeuteten am elementarsten sind. Nicht von dieser Spielart des Antikommunismus soll hier die Rede sein. Auch nicht von jener ebenso brutalen faschistischer Prägung. Natürlich - im Wesen gleichen sich all diese Modifikationen. Wir aber, deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, leben und kämpfen unter hiesigen Bedingungen, und es interessiert uns primär der Antikommunismus hier und heute. Wir leben in einer Zeit, die die Tat verlangt: unser Eingreifen in die sozialen Kämpfe, unser Engagement gegen die Eskalation der kriegerischen Neuaufteilung der Welt, das Ringen um die junge Generation, die Solidarität mit den sozial und politisch Ausgegrenzten und vieles andere mehr. Und gerade deshalb sind wir überzeugt, daß die Aktion zu organisieren ist und gleichermaßen die Auseinandersetzung mit jenen ideologischen Tendenzen, die lähmend wirken auf die Fähigkeit und Bereitschaft zu handeln, die theoretische Arbeit inbegriffen.
Wir wirken in einem Land, das noch vor drei Jahren in zwei Systeme gegliedert war. Jedes der beiden deutschen Lande gehörte zu einem politisch-militärischen Bündnis, welches - sehr lange zumindest - dem anderen aus System-Gründen nicht gerade freundlich gegenüberstand. In dem einen Land herrschte der vielleicht üppigste Kapitalismus der sogenannten westlichen Welt. Der andere deutsche Staat versuchte, seit über vierzig Jahren ohne den Profitmechanismus auszukommen. Durchaus nicht ohne beträchtliche Fortschritte, aber immer als der materiell ärmere Teil.
Umstände, die im nachfolgenden nur am Rande eine Rolle spielen können - weil ihre ausführliche Behandlung das Thema sprengen würde und weil die Analyse dieser Umstände im historisch umfassendsten Sinne überhaupt erst zu leisten ist - führten zu "Deutschland einig Vaterland". Und 's Vaterland ist kapitalistisch bis auf die Knochen. Mit allem, was dazu gehört und morgen wieder dazugehören wird. Und zum Knochenmark dieses vom Kapital regierten Vaterlands gehört militanter Antikommunismus. Der impliziert hier und heute vor allem die Verteufelung all jener, die versuchten, vier Jahrzehnte ohne Kapitalisten auszukommen, und all dessen, was in den vierzig Jahren geschah. Nichts Neues genaugenommen. Interessant jedoch ist die Frage, in welchem Gewande die Verteufelung daherkommt, und noch interessanter jene, warum sie überhaupt noch kommt. Es gibt die DDR nicht mehr. Könnte da nicht kulant mit ihr umgegangen werden? Etwa wie mit einem Toten, den zu Lebzeiten keiner mochte und dem man nun, da er nicht mehr weiter stört, alles mögliche Liebenswerte nachruft. Oder stört die DDR noch und in ihr gar der vergangene Sozialismus?
Gebrechen des ersten Sozialismus störten die Bourgeoisie nie wirklich
Antikommunismus wurde zur Staatsräson mit der Konstituierung sozialistischer Staaten. Sein Anliegen war niemals ein wohlmeinend kritisches, sondern stets restaurativ. Die Empörung der bürgerlichen Welt über Schwächen, Fehler und Mängel, die den ersten Sozialismus auch kennzeichneten, und über die Verbrechen, die geschahen, waren und sind Heuchelei. Die Gebrechen des ersten Sozialismus haben die Bourgeoisie nie wirklich gestört. Im Gegenteil: boten sie doch die sichersten Angriffsflächen. Darin vielleicht liegt die Tragik des ersten Sozialismus: er wurde geboren aus historisch - und gegenwärtig - belegter Notwendigkeit. Von Geburt an schwächer als jene Welt, die der Menschheit über vierhundert Jahre hinweg Kapitalverbrechen aller Art als systemimmanente Selbstverständlichkeit offeriert, "... aus allen Poren blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen, ..." im Blut watend und vom Hunger der Ärmsten fett bis heute, perspektivlos auf den Abgrund zusteuernd. Der Sozialismus blieb die schwächere Ordnung, von der Alten Welt bekämpft bis aufs Messer. Zentralisation war für ihn eine Überlebensfrage. Denn sie ist notwendigerweise angezeigt, wenn die zu lösenden Probleme die Potenzierung der Kräfte durch konsequente Organisation verlangen. Doch wo sich Macht zu sehr konzentriert, liegt ihr Mißbrauch nahe. Er hatte in der Sowjetunion schlimme Folgen, die wir verurteilen. Vermeidbar oder unvermeidbar in jenen ersten Jahrzehnten, dies ist die Frage, die jeden Kommunisten und all jene, die mit dem Sozialismus sympathisierten und es noch tun, nicht zur Ruhe kommen läßt. Die Gegner des Sozialismus, die Gorbatschow nicht mehr wahrnahm, weil er - erklärtermaßen - selber einer wurde, sie haben nie unter den Schattenseiten des ersten Sozialismus gelitten. Vielmehr müssen sie über ihre Existenz erfreut gewesen sein.
Ihnen ging es in ihrem Haß auf den Sozialismus real um Folgendes:
1. Der sozialistische Versuch stellte - schon in seiner Unvollkommenheit - die scheinbare Unerschütterlichkeit der Alten Welt in Frage und bot eine Alternative. Nicht jenseits alles Irdischen im Lande Nirgendwo, irgendwann einmal. Niemals war da eine Zeit, da der erste Sozialismus von der Bourgeoisie nicht ernst genommen worden wäre. Einen Popanz bekämpft man nicht. Schon gar nicht mit immensem Aufwand. Das Zum-Popanz-Machen allerdings war kein unwesentlicher Teil ihrer Strategie.
2. Der Sozialismus schränkte die Bedingungen für ungehemmte Kapitalverwertung ein, unterstützte die Kämpfe der internationalen Arbeiterbewegung. Kriege galten zunehmend nicht mehr als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Befreiungsbewegungen gegen koloniale Unterdrückung konnten davon ausgehen, daß hemmungsloses Vorgehen gegen sie nicht möglich ist. Dem Kapital, - vor allem in seinen Basisländern - wurde ein Verhalten aufgezwungen, welches soziale und demokratische Züge trug, die nicht seiner Natur entsprachen.
3. Der vergangene Sozialismus erbrachte den Nachweis, daß die durch die Aufhebung des Privateigentums möglich werdenden Verteilungsprinzipien die Verelendung in historisch kurzer Frist (trotz niedrigerer Arbeitsproduktivität) beseitigen und daher ein - wenngleich oft bescheidenes - Leben, letztlich ohne Deklassierungen und sozialen Rest ermöglichten. Hunger gab es nicht mehr, das Bildungsprivileg wurde gebrochen, die Arbeitslosigkeit im wesentlichen abgeschafft, ein höheres Maß an weiblicher Emanzipation ermöglicht als im ökonomisch ungleich stärkeren Kapitalismus. Und dies aus dem Mangel heraus, der nie wirklich überwunden wurde. Das alles in einer feindlichen Umgebung, die permanent danach trachtete, den Sozialismus wieder abzuschaffen und ihrem Trachten sehr materiellen Rückhalt bot. Der Sozialismus führte, trotz ökonomischer Unterlegenheit, auf Grund der Eigentumsverhältnisse Probleme einer Lösung zu bzw. nahm sie in Angriff, die der Kapitalismus nicht zu bewältigen vermochte und es niemals vermögen wird. Der Sozialismus hatte die soziale Existenzangst abgeschafft. Keiner in der Sowjetunion oder DDR mußte Sorge haben, unter einer Brücke zu landen, weil die Miete unbezahlbar wird. Vor knapp hundertfünfzig Jahren formulierte Friedrich Engels: "Die Befriedigung des Bedürfnisses für Obdach wird einen Maßstab abgeben für die Art, in welcher alle übrigen Bedürfnisse befriedigt werden."
Noch vor zwei, drei Jahren wäre es fast unmöglich gewesen, solche Überlegungen in Ruhe zu äußern. Heute sind die sozialen Erfahrungen - zumindest im Osten - so weit gediehen, daß viele Menschen das selbst erkennen. Wer in Bischofferode war, konnte genau diese Erfahrung machen. Die Bourgeoisie nahm seine nichtsozialistischen Züge zum Anlaß für die Verteufelung des Sozialismus. Tatsächlich galt ihr Haß den schon sozialistischen Bestandteilen der sich entwickelnden Neuen Welt. Der erste Sozialismus hatte sozialistische und nichtsozialistische Züge. Gebildeten Marxisten ist das nichts Neues. Ihnen ist die Marxsche Überlegung aus der Kritik am Gothaer Programm geläufig: "Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft."
Ein Pyrrhussieg
Nun ist die sozialistische Welt zunächst - nicht so ganz von alleine - untergegangen. Zumindest in Europa. Warum erledigt sich da nicht auch der Antikommunismus? Warum "gedeiht" er wie eigentlich nie zuvor? Weil der Sieg über den ersten Sozialismus ein Pyrrhussieg ist. Weil daher dem Kapital die Angst im Nacken sitzt, die Idee vom Sozialismus könne schneller erneut Geltung erlangen als momentan vorstellbar. Geltung nicht primär aus Visionen, sondern aus positiven Erfahrungen, die verschüttet waren unter dem Wust der Niedergangserscheinungen und den demagogischen Versprechungen der Sozialismusfeinde, und die nun zum Vorschein kommen unter dem Druck der ungebremsten Restauration. Das Kapital bestätigte mit der Art und Weise seines Sieges über den Sozialismus ein weiteres Mal das Urteil der Kommunisten über sein System. Es ist die Ironie der Geschichte: der Sozialismus hatte den Kapitalismus gezwungen, sich nie derart zu entblößen, wie er es jetzt tut. Mit dem Verschwinden des verhaßten Feindes verschwinden die "Vorteile" der bürgerlichen Ordnung. Der Feind war echt, die Vorteile vermeintlich. Die sicherste Methode, Menschen von der Einsicht abzuhalten, daß der Sozialismus bei all seinen Schwächen schon eine Chance für Menschheitsfortschritt bot, der Kapitalismus hingegen, so ausgereift er ist, - oder gerade deshalb - nur in den Abgrund führen kann, die sicherste Methode, diese Einsicht zu verstellen, besteht darin, Ressentiments gegen Kommunisten - ob sie nun einst in der DDR wirkten oder in der DKP - so auszubauen, daß die Möglichkeiten ihrer Wirksamkeit an der Mauer des Vorurteils zerschellen. Genau mit dieser Absicht haben wir es gegenwärtig zu tun.
Worin besteht das Wesen des heutigen und hiesigen Antikommunismus? Er zielt auf die totale Infragestellung der Legitimation des vergangenen Sozialismus. Man abstrahiert von seinen konkreten Entwicklungsbedingungen, mißt ihn an eklektizistischen Visionen, und verabsolutiert zugleich alle Erscheinungen nichtsozialistischer Natur. Aus diesen Verabsolutierungen und Vereinseitigungen wird abgeleitet, die Negativseiten des ersten Sozialismus entsprächen dem Wesen des Systems. Hiermit wird konkrete Identität in ihrer Einheit von Identischem und Nichtidentischem einfach geleugnet. Ein solcher Umgang mit dem vergangenen Sozialismus ist Denunziation. Die Denunzianten bedienen sich dabei der auch von zutiefst lauteren bürgerlichen Denkern vertretenen Auffassung, der Mensch sei nun einmal nicht fähig, das Gemeinwohl über sein Ego zu stellen, und somit sei ein sozialistisches System zur Diktatur und daher zur Selbstaufhebung seines beabsichtigten Wesens gezwungen. Diese Argumentation kommt durchaus auch von Menschen, die ehrlich bedauern, daß - ihrer Überzeugung nach - Sozialismus wider die Natur des Menschen sei. Zugleich erscheint dieses Argument in tiefreaktionärer Spielart: der Sozialismus negiere die "Individualität" des Menschen und unterdrücke den "gesunden Wettbewerb", deshalb könne er nicht funktionieren. Zur letztgenannten Position lohnt es sich hier nicht zu polemisieren. Bezüglich der weiter oben genannten Auffassung ist es in Anbetracht aller geschichtlichen Erfahrungen, nicht zuletzt der Niederlage des Sozialismus, nachvollziehbar, warum es sie gibt. Und doch halten wir sie für unrichtig. Wenn es kaum mehr möglich ist, sich der Einsicht zu verweigern, daß das kapitalistische System die Menschheit auf den Abgrund zutreibt, so sollte ein nichtgeglückter sozialistischer Versuch nicht bewirken, eher in Hoffnungslosigkeit zu versinken als Sozialismus ein zweites Mal zu wagen. Eine andere Chance hat die Zivilisation ohnehin nicht.
Das Wesen des Stalinismusbegriffs
Die These, die Negativseiten des Sozialismus entsprächen dem Wesen des Systems, ist die inhaltliche Grundlage der "Stalinismustheorie". Dabei wird eine exakte Bestimmung des Begriffs "Stalinismus" vermieden. Wir müssen davon ausgehen: Wer einen Begriff unentwegt verwendet, ohne ihn korrekt zu definieren, will etwas anderes, als die präzise Charakterisierung eines Zustandes oder Prozesses.
Das Wesen des Stalinismusbegriffs besteht in seiner Benutzung a) gegen die Übernahme der Macht und deren Anwendung zur Lösung der sozialen Frage, b) gegen die Legitimität kommunistischer Überzeugungen.
Indem die in der Periode Stalins geschehenen Verbrechen letztlich zum maßgeblichen Bewertungskriterium des ersten Sozialismus gemacht werden und auch die Zeit danach als von reiner Machtpolitik beherrscht charakterisiert wird, indem stets aufs neue verlangt wird, der Begriff Stalinismus dürfe nicht auf die Gesetzesverletzungen in den dreißiger und vierziger Jahren der Sowjetunion beschränkt bleiben, sondern müsse als primäre Systemcharakteristik von etwa 1924 bis zur Niederlage des Sozialismus Anwendung finden, wird faktisch die gesamte Geschichte des bisherigen Sozialismus als eine Kette von Verbrechen und Willkür dargestellt. Die Reduzierung des ersten Sozialismus auf diese Seite und die Behauptung, in dem daraus assoziierten Sinne sei Sozialismus ein stalinistisches Modell gewesen, impliziert den Schluß, dieses System gehörte abgeschafft. Denn wer sollte - ohne sich selbst zu diskreditieren - einer Ordnung etwas abgewinnen, die in der Substanz verbrecherisch gewesen sein soll und zumindest immer machtpolitisch diktatorisch. Diese Betrachtung ist die vollständige Denunziation nicht nur des sozialistischen Versuchs, sondern zugleich der kommunistischen Idee, ihrer wissenschaftlichen Grundlage und ihrer Anhänger selbst.
Hier treffen sich Rechtskonservatismus und jene, die sich als Verfechter des "wahren Sozialismus" empfinden oder auch nur ausgeben; die jedoch aus Angst vor vielleicht sich wiederholenden Fehlern in einem zukünftigen Sozialismus die herrschenden Kapitalverhältnisse als vergleichsweise demokratisch preisen und meinen, in ihnen würde sich die Machtfrage doch noch nach den Prinzipien der Aufklärung lösen.
Jene, die durchaus bereit zu sein scheinen, positive Seiten des Sozialismus anzuerkennen und zugleich - zum Beispiel auf die DDR bezogen - vom stalinistischen Modell reden, betreiben - objektiv gesehen - politische Scharlatanerie. Sie wissen: würden sie die von ihnen als stalinistisch bezeichnete DDR von Grund auf ablehnen, so verlören sie ihre politische Basis. Auch die Wähler also. Indem sie sie als stalinistisch bezeichnen und ihr dennoch einiges brauchbare zugestehen; indem sie heute sagen, die DDR sei niemals sozialistisch gewesen, vorgestern feststellten, dieselbe habe ein Korrektiv zur Bundesrepublik dargestellt, und morgen vielleicht zur Behauptung gelangen, die DDR hätte nie gegründet werden dürfen, beschwichtigen sie wechselseitig alle und jeden. Es ist apeasement-Politik in ideologischer Hinsicht. Sie wird den Linken ebenso wenig bringen wie Beschwichtigungen anderer Zeiten. Denn: dieser eklektizistische Umgang mit Geschichte bedient die Totalitarismusdoktrin mit deren Quintessenz der Gleichsetzung von Faschisten und Kommunisten.
Dies allerdings ist offener Antikommunismus. Wer ihm zuarbeitet, macht sich schuldig, ob er das will oder nicht.
2. Teil
Über Sachfragen streiten
Man muß kommunistische Überzeugungen nicht teilen. Aber man sollte es sich doch angewöhnen, mit Kommunisten über philosophische, ökonomische und politische Sachfragen zu streiten, über linke Strategien also, anstatt sie als Stalinisten abzustempeln, nur weil sie meinen, die Menschheitsprobleme seien nicht lösbar ohne die Entscheidung der Macht- und Eigentumsfrage, ihnen altes Denken vorzuwerfen, nur weil ihnen die Niederlage des ersten Sozialismus kein Grund ist, Sozialdemokraten zu werden, ihnen Profilierungssucht zu unterstellen, nur weil sie sich allgemeiner linker Positionsverwässerung nicht anpassen wollen.
Aber genau diese Auseinandersetzung zu Sachfragen findet nicht statt. Und es ist nur logisch, da sie ja auch nicht oder kaum hinsichtlich des vergangenen Sozialismus geführt wird. Er war stalinistisch - dies steht ja wohl fest. Wer das anerkennt, darf Geschichte "glaubwürdig aufarbeiten". Wer sich diesem Prinzip verweigert, ist - natürlich Stalinist. Dies ist "moderne" Apologetik, und Apologetik hat die sozialistische Bewegung schon viel gekostet. Kommunistische Überzeugungen werden als "ideologische Glaubenssätze" abgetan, der Wunsch nach strategischer Auseinandersetzung mit der dafür gewählten Bezeichnung "Glaubenskrieg" der Lächerlichkeit preisgegeben. Es wird der Gegensatz konstruiert zwischen theoretischem Streit und praktikabler Vertretung von Interessen der Menschen. Ja welcher Menschen denn, kann und muß da gefragt werden, und schon sind wir wieder beim Theoriebedarf. Nein, wir verweigern uns der Kleinarbeit nicht, von der Tagespolitik wesentlich lebt. Wir wissen, daß es Glaubwürdigkeit in der Politik nur gibt, wenn gemäß der konkreten Interessenlagen jener gearbeitet wird, die in einer Partei oder Bewegung eben ihre politischen und sozialen Interessen bündeln wollen. Uns geht es vielmehr um die Einheit von tagespolitischer Interessenvertretung und der Benennung der Ursachen für die Interessenlagen. Wir wollen den praktischen Kampf bei klarer Benennung, gegen wen er geführt wird, und bei zunehmend ausgearbeiteten Vorstellungen, - nicht zuletzt ausgehend von Vergangenheitsanalyse - wofür wir antreten und wofür eben auch nicht. Auf diese Positionsbestimmungen zu verzichten, bzw. auf die ernsthafte Suche nach diesen Inhalten, hieße, auf Identität zu verzichten. Denn keiner wird auf Dauer leben können mit der Identität, sich als links von anderen Identitäten einzuordnen.
Antikommunistische Linke?
Die Angst, kommunistische Sichten als zumindest ernsthafte Herangehensweise zu akzeptieren, ist das sicherste "Unterpfand" für antikommunistische Erfolge unter Linken. Aber - antikommunistische Linke gibt es nicht. Antikommunisten landen immer auf der Gegenseite von links, und meist so gründlich, daß rechts von ihnen nur noch die Wand ist. Denn: Die bloße Denunziation des vergangenen Sozialismus und somit faktisch des dialektischen und historischen Materialismus schließt zwingend fast schon die Verharmlosung des Profitsystems ein. Plötzlich scheint der Kapitalismus das kleinere Übel zu sein. Aus auch mißbrauchter Macht wird der Verzicht auf Macht generell abgeleitet. Jene Verbrechen, die aus Abwesenheit von sozialistischer Macht geschehen, werden nicht mit der emotional aufpeitschenden Abscheu behandelt, die sogleich zur Stelle ist, wenn eigene Geschichte debattiert wird. Aus ungenügend bewältigter Dialektik von Zentralisation und Dezentralisation wird - zumindest verbal - die Ablehnung jeglicher Zentralisation. (Man weiß ansonsten schon zu zentralisieren, wo es nützt, so wie Gorbatschow, der unentwegt gegen Machtmißbrauch wetterte und seine persönlichen Befugnisse adäquat zum Wettern erweiterte.) Hieraus folgt des Pudels Kern: Wer generell die Machtfrage umgeht und die Zentralisation verteufelt, kann die Eigentumsfrage nicht stellen. Sie nicht zu stellen, bedeutet allerdings, den Kapitalismus als die letzte Antwort der Geschichte zu akzeptieren. Da kann ruhig anderes behauptet werden. Nun sind wir nicht etwa der Auffassung, die Machtfrage stünde auf der politischen Tagesordnung. Worum es uns geht, ist, die Grundfragen nicht länger zu umgehen. Und es geht darum, bezogen auf die Perspektive heute zumindest zu sagen, daß auf die Dauer bei Beibehaltung des machtpolitischen Status quo eine grundsätzliche Änderung der Gesellschaft und somit die Rettung der Zivilisation nicht möglich sein wird. Was die Machtfrage anbetrifft, so verstoßen wir sicherlich nicht gegen die "freiheitlich-demokratische Grundordnung", wenn wir Hans A. Pestalozzi zitieren, der nach 25 Jahren Management und nach fünfzehn Jahren Leitung eines internationalen Managementinstituts schreibt: "Die Krise der Neuzeit ist keine Krise der Wahrnehmungen, keine Krise des menschlichen Bewußtseins. Es sind nicht versteckte Denkmuster und Gefühlsstrukturen, die unser heutiges verhängnisvolles Handeln nach sich gezogen haben, sondern es sind gewollte Denkmuster und Gefühlsstrukturen. Die Herren, die an der Macht sind, wollten es so. Sie wollten es so, wie es heute ist, und wollen, daß es so bleibt, wie es ist. Verändern können nur wir selbst. Es ist keine Frage der kosmischen Konstellation. Es ist ein Kampf gegen die Herren der Macht."
Der programmatische Verzicht linker Kräfte auf die Änderung des Status quo durch die letztliche Lösung der Macht- und Eigentumsfrage erhöht objektiv die Chancen für Antikommunismus, den mehr verdeckten allerdings. Der Unterschied zwischen dem offenen bewußten Antikommunismus und den verschiedenen Arten ihn - sicher oft ungewollt - zu bedienen, besteht darin, daß letztere in der Beurteilung des vergangenen Sozialismus die Utopien gelten lassen. Meist gleich mit dem Hinweis verbunden, sie dürften nicht zur Infragestellung alles Bestehenden führen.
Die Strapazierung des Utopiebegriffs
Die unendliche Strapazierung des Utopie-Begriffs nimmt einen festen Platz im Instrumentarium gegen konsequent antikapitalistisches Linkssein ein. Objektiv ist die Zeit lange dahin, da Kapitalismuskritik auf idealistische Projekte angewiesen ist, die "politische Formen von ihren gesellschaftlichen Unterlagen trennen und sie als allgemeine abstrakte Dogmen hinstellen". (Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 247) Es zeugt von kurzem Atem, wenn die Niederlage des ersten Sozialismus von Linken damit identifiziert wird, daß Sozialismus erst gar nicht machbar sei und das Ziel, soziale Gerechtigkeit zu erlangen, wieder in einen bloßen schönen Traum zurückverwandelt wird. Dies häufig mit der sinnigen Begründung, soziale Gerechtigkeit könne es auf Erden nicht geben, da es sie noch nie gegeben habe. Damit wir nicht mißverstanden werden, die Niederlage des Sozialismus nicht zum Ausgangspunkt unbestechlicher Analyse für die Ursachen hierfür zu machen, wäre sträflich. Gerade, weil es gilt, ein Jahrhundertwerk zu beurteilen, für das Millionen mit Überzeugung in den Tod gingen und in welches das persönliche Schicksal eines jeden von uns verflochten ist. Die Analyse wird jedem, der aufrichtig für den Sozialismus arbeitete, auch Schmerz zufügen. Nur: Zu welchen Urteilen und Schlüssen es auch kommen mag, alle Erfahrungen und Tatsachen sprechen dafür, daß es keine Alternative zur Aufhebung des Profitsystems gibt, wenn die Menschheit überleben soll. Die Eigentumsfrage hat sich mit dem Untergang des ersten Sozialismus daher nicht erledigt, sie steht zwingender auf der Tagesordnung denn je. Die Nachrichtengebung jedes neuen Tages belegt dies alarmierend. Und: Die Kapitalverwerter werden aller Voraussicht nach nicht freiwillig abtreten, aus Vernunftgründen sozusagen. Dies ist kein altes Denken, sondern, das sogenannte neue Denken war vielmehr bar jeden Realismus, wo es versuchte, diese Tatsachen aus der Politik hinauszuleugnen.
Zurück zu den abstrakten Utopien. Sie sind nicht nur unverbindlich für linke Politikstrategie, weil von jeder Realität abgehoben. Sie verstellen auch im Umgang mit vergangenem Sozialismus die Möglichkeit, objektive Maßstäbe anzulegen. Denn: Mißt man den gesamten ersten Sozialismus an utopischen Projekten, so bleibt auch nichts von dem, was an ihm von Wert war. Auch deshalb nicht, weil dieses Messen an Visionen mit der Unterstellung einhergeht, all das, wofür Sozialisten antraten, müßte in kürzester Zeit erreicht worden sein. Am Umgang mit der Eigentumsproblematik und dem Freiheitsbegriff soll verdeutlicht werden, was wir meinen. Marx und Engels ließen keinen Zweifel daran, wie zunächst die Eigentumsfrage gelöst werden sollte: "Die nationale Zentralisation der Produktionsmittel wird die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt." Oder: "Die sogenannte ist nach meiner Ansicht nicht ein ein für allemal fertiges Ding, sondern, wie alle anderen Gesellschaftszustände als in fortwährender Veränderung und Umbildung begriffen zu fassen. Kritischer Unterschied vom jetzigen Zustand besteht natürlich in der Organisation der Produktion auf Grundlage des Gemeineigentums zunächst der Nation an allen Produktionsmitteln." Und Lenin formuliert 1917: "Der Sozialismus ist nichts anders als staatskapitalistisches Monopol, das zum Nutzen des ganzen Volkes angewandt wird und dadurch aufgehört hat, kapitalistisches Monopol zu sein." Wenn also heute auch von Linken mit dem Anspruch der Ernsthaftigkeit unterstellt wird, die Eigentumsfrage sei im ersten Sozialismus nie in Angriff genommen worden, so zeugt das entweder von der Ignoranz, ohne Kenntnis der Theorie zu behaupten, die Praxis habe ihr nicht entsprochen, oder davon, daß die Vorstellungen von Marx, Engels und Lenin nie ernstgenommen wurden. Im zweiten Falle müßte allerdings zumindest erläutert werden, auf welcher anderen Basis als der des Staatseigentums ihre eigenen Wertungen zur Eigentumsfrage denn vorgenommen werden sollen. Oder meinen sie vielleicht, daß es im ersten Sozialismus letztlich nur ungenügend gelang, die entfremdete Arbeit zu überwinden. Damit hätten sie recht. Nur - dies ist ein anderes Thema, das sicher noch gründlicher wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf.
Ein zweites Beispiel für die Elle selbstgeschneiderter Maßstäbe, von denen dann behauptet wird, es seien die verbindlichen, ist der Umgang mit der Kategorie Freiheit und daher auch mit dem Begriff Demokratie. Marx schreibt: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeiten bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." Es gibt ungezählte andere Ausführungen der Klassiker zu Freiheit und Demokratie, die die historische Determiniertheit auch dieser Kategorien behandeln. Nirgendwo findet sich bei ihnen, der Sozialismus habe von Anfang an das Reich der Freiheit zu sein. Tut nichts. Für manche erschöpft sich diese ganze Problematik in dem unermüdlichen Wiederholen des völlig aus dem Kontext gerissenen Manifestzitats über die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller.
Wir meinen, gemessen werden muß an den ursprünglichen Maßstäben. Das wird schon genügend wehtun. Im Nachhinein die Maßstäbe aus der Wundertüte zu ziehen, um dann an solchen gemessen, zudem jede Determiniertheit leugnend, die Kläglichkeit der Praxis nachweisen zu wollen, ist gelinde gesagt unseriös.
Fazit: Die Denunziation des vergangenen Sozialismus besteht aus den berühmten zwei Seiten einer Medaille. Die rohen, unreifen und auch nichtsozialistischen Züge des ersten Sozialismus werden verabsolutiert und fürs Ganze genommen. Hier nähert man sich der Totalitarismuskonzeption und gibt sich zugleich noch fortschrittlich, indem man diese Konzeption dann doch ein bißchen kritisiert. In gleichem Atemzug mißt man jene Züge des sozialistischen Versuchs, die eindeutig positiven Charakter hatten, an utopischen Konstrukten und "weist" so nach, daß auch nichts taugte, was etwas wert war. So wird der Eindruck vom völligen Verrat an den sozialistischen Idealen erzeugt. Dies ist identisch mit der indirekten Abkehr vom wissenschaftlichen Sozialismus. Die Verleugnung jeglicher sozialistischer Charakteristika des sozialistischen Versuchs stellt die Erkenntnisse von Marx, Engels und Lenin vollständig in Frage. Wenn vom Ganzen nichts bliebe, und die Praxis der Prüfstein für die Richtigkeit der Theorie ist, dann müßte auch die Theorie verfehlt gewesen sein. Es scheint uns folgerichtig, daß Marx immer häufiger mit Jesus verglichen wird. Utopisten machen ihn zum Heiligen mit ehernen Zielen ohne irdische Realisierungschance. Die Infragestellung des wissenschaftlichen Weltbildes jedoch macht die Linke zu einer Bewegung unter vielen, die ihres wesentlichsten Kampfmittels beraubt ist.
All diese Bestandteile der völligen Infragestellung der Legitimation des vergangenen Sozialismus, seine umfassende Denunziation, finden sich in der Politik von Perestroika und Glasnost. Man kann vielleicht zugespitzt formulieren: Die Politik Gorbatschows war - wurde es zumindest irgendwann - Antikommunismus unter dem roten Banner mit Hammer und Sichel. Diese Aussage bedeutet nicht, daß es in der Sowjetunion hätte weitergehen können wie vor dem Jahre 1985. Sie bedeutet auch nicht, daß man die Niederlage des Sozialismus Gorbatschow, Schewardnadse, Jelzin, Jakowlew und Konsorten allein anlasten könnte. Wer in so kurzer Zeit so Verheerendes anrichten kann, muß die Bedingungen hierfür vorgefunden haben. (Es ist wohl heute nicht mehr fragwürdig, für die obengenannten Personen die Charakteristik Konsorten zu wählen. Das Schöne am Leben ist, daß es funktioniert wie Gottes Mühlen. Sie mahlen langsam. Aber sie mahlen.) Alles bei Gorbatschow lief unter der Überschrift des Neuen Denkens. Nach neuen Konzepten zu suchen, heißt nun allerdings zweierlei bestimmt nicht:
Der Antikommunismus und seine Kronzeugenregelung
Doch der Antikommunismus bedient sich nicht nur seiner tradierten Quellen und Formationen. Er hat nun auch die Kronzeugenregelung. Wer am sozialistischen Versuch beteiligt war und heute bereit ist, gegen ihn auszusagen, kann nicht nur - im Regelfalle - für sich persönlich sozial zuversichtlicher sein, sondern, er ist außerdem noch ein moderner Mensch. Denn es ist moderner, einem System die Überlegenheit zuzugestehen, das seit über vierhundert Jahren die Menschheitsprobleme nicht löst, sondern zunehmend verschärft, als dem schwächeren und daher untergegangenen System zu bescheinigen, daß es eine Alternative gewollt hat und eine solche - durch seine bloße Existenz fast schon - als Synthese von Realität und Möglichkeit auch war. Die Kronzeugen rufen: Nie wieder Verantwortung, die schwere Entscheidungen verlangt, und verzichten so im Namen der Politik der allumfassenden Schadensbegrenzung und der schmerzstillenden Mittel darauf, zumindest den Versuch zu unternehmen, die Menschen über die Systemursachen für ihre gegenwärtige Lage aufzuklären und in den Kampf zu führen. Die Konsequenzen dieser Stillhaltepolitik liegen auf der Hand. Die Frustration über die gesellschaftlichen Zustände wird ihre Entsprechung in zunehmend anarchischen Zuständen finden, und die kapitalistische Antwort auf Anarchie kann neuer Faschismus sein, in welcher Modifikation auch immer. Dies ist keine krankhafte Phantasie, dies kündigt sich vielmehr krankmachend an. Bewußter Widerstand gegen das kapitalistische System ist daher auch konsequenter Antifaschismus. Doch all dies ist unmöglich ohne die Überwindung der antikommunistischen Tendenzen in den Reihen der Linken selbst.
(September 1993)
Quelle: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS, Heft 10/1993, S. 1-5 (Teil 1), Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS, Heft 11/1993, S. 6-12 (Teil 2). Außerdem erschienen in einer Sonderbeilage der UZ - Zeitung der DKP.
Zu Aspekten des "modernen" Antikommunismus 1993
Ellen Brombacher, Rolf Priemer, Heinz Stehr, Sahra Wagenknecht
1. Teil... s' Vaterland ist kapitalistisch bis auf die Knochen
1988 lief im westdeutschen Fernsehen ein Dokumentarfilm über Glanz und Elend des Kapitalismus in Brasilien. Die Aufseher hatten da noch eine Peitsche, die Latifundistas waren im Prinzip Herren über Leben und Tod und die Plantagenarbeiter schliefen nach vierzehnstündigem Arbeitstag mit Hungergefühlen in Elendshütten ein. Aus deren Not saugten viele ihren Profitanteil. Insonderheit US-amerikanische Konzerne. Doch auch die Deutsche Bank ging nicht leer aus. Folgerichtig daher der Spruch unter einem Heiligenbild im Wohnzimmer eines Gutsbesitzers: Gott schütze uns vor Krankheiten und dem Kommunismus.
Dies ist der rohe Antikommunismus. Er herrscht vorwiegend da, wo die Ausbeutungssitten ohne Umschweife roh und Verzweiflung und Haß der Ausgebeuteten am elementarsten sind. Nicht von dieser Spielart des Antikommunismus soll hier die Rede sein. Auch nicht von jener ebenso brutalen faschistischer Prägung. Natürlich - im Wesen gleichen sich all diese Modifikationen. Wir aber, deutsche Kommunistinnen und Kommunisten, leben und kämpfen unter hiesigen Bedingungen, und es interessiert uns primär der Antikommunismus hier und heute. Wir leben in einer Zeit, die die Tat verlangt: unser Eingreifen in die sozialen Kämpfe, unser Engagement gegen die Eskalation der kriegerischen Neuaufteilung der Welt, das Ringen um die junge Generation, die Solidarität mit den sozial und politisch Ausgegrenzten und vieles andere mehr. Und gerade deshalb sind wir überzeugt, daß die Aktion zu organisieren ist und gleichermaßen die Auseinandersetzung mit jenen ideologischen Tendenzen, die lähmend wirken auf die Fähigkeit und Bereitschaft zu handeln, die theoretische Arbeit inbegriffen.
Wir wirken in einem Land, das noch vor drei Jahren in zwei Systeme gegliedert war. Jedes der beiden deutschen Lande gehörte zu einem politisch-militärischen Bündnis, welches - sehr lange zumindest - dem anderen aus System-Gründen nicht gerade freundlich gegenüberstand. In dem einen Land herrschte der vielleicht üppigste Kapitalismus der sogenannten westlichen Welt. Der andere deutsche Staat versuchte, seit über vierzig Jahren ohne den Profitmechanismus auszukommen. Durchaus nicht ohne beträchtliche Fortschritte, aber immer als der materiell ärmere Teil.
Umstände, die im nachfolgenden nur am Rande eine Rolle spielen können - weil ihre ausführliche Behandlung das Thema sprengen würde und weil die Analyse dieser Umstände im historisch umfassendsten Sinne überhaupt erst zu leisten ist - führten zu "Deutschland einig Vaterland". Und 's Vaterland ist kapitalistisch bis auf die Knochen. Mit allem, was dazu gehört und morgen wieder dazugehören wird. Und zum Knochenmark dieses vom Kapital regierten Vaterlands gehört militanter Antikommunismus. Der impliziert hier und heute vor allem die Verteufelung all jener, die versuchten, vier Jahrzehnte ohne Kapitalisten auszukommen, und all dessen, was in den vierzig Jahren geschah. Nichts Neues genaugenommen. Interessant jedoch ist die Frage, in welchem Gewande die Verteufelung daherkommt, und noch interessanter jene, warum sie überhaupt noch kommt. Es gibt die DDR nicht mehr. Könnte da nicht kulant mit ihr umgegangen werden? Etwa wie mit einem Toten, den zu Lebzeiten keiner mochte und dem man nun, da er nicht mehr weiter stört, alles mögliche Liebenswerte nachruft. Oder stört die DDR noch und in ihr gar der vergangene Sozialismus?
Gebrechen des ersten Sozialismus störten die Bourgeoisie nie wirklich
Antikommunismus wurde zur Staatsräson mit der Konstituierung sozialistischer Staaten. Sein Anliegen war niemals ein wohlmeinend kritisches, sondern stets restaurativ. Die Empörung der bürgerlichen Welt über Schwächen, Fehler und Mängel, die den ersten Sozialismus auch kennzeichneten, und über die Verbrechen, die geschahen, waren und sind Heuchelei. Die Gebrechen des ersten Sozialismus haben die Bourgeoisie nie wirklich gestört. Im Gegenteil: boten sie doch die sichersten Angriffsflächen. Darin vielleicht liegt die Tragik des ersten Sozialismus: er wurde geboren aus historisch - und gegenwärtig - belegter Notwendigkeit. Von Geburt an schwächer als jene Welt, die der Menschheit über vierhundert Jahre hinweg Kapitalverbrechen aller Art als systemimmanente Selbstverständlichkeit offeriert, "... aus allen Poren blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen, ..." im Blut watend und vom Hunger der Ärmsten fett bis heute, perspektivlos auf den Abgrund zusteuernd. Der Sozialismus blieb die schwächere Ordnung, von der Alten Welt bekämpft bis aufs Messer. Zentralisation war für ihn eine Überlebensfrage. Denn sie ist notwendigerweise angezeigt, wenn die zu lösenden Probleme die Potenzierung der Kräfte durch konsequente Organisation verlangen. Doch wo sich Macht zu sehr konzentriert, liegt ihr Mißbrauch nahe. Er hatte in der Sowjetunion schlimme Folgen, die wir verurteilen. Vermeidbar oder unvermeidbar in jenen ersten Jahrzehnten, dies ist die Frage, die jeden Kommunisten und all jene, die mit dem Sozialismus sympathisierten und es noch tun, nicht zur Ruhe kommen läßt. Die Gegner des Sozialismus, die Gorbatschow nicht mehr wahrnahm, weil er - erklärtermaßen - selber einer wurde, sie haben nie unter den Schattenseiten des ersten Sozialismus gelitten. Vielmehr müssen sie über ihre Existenz erfreut gewesen sein.
Ihnen ging es in ihrem Haß auf den Sozialismus real um Folgendes:
1. Der sozialistische Versuch stellte - schon in seiner Unvollkommenheit - die scheinbare Unerschütterlichkeit der Alten Welt in Frage und bot eine Alternative. Nicht jenseits alles Irdischen im Lande Nirgendwo, irgendwann einmal. Niemals war da eine Zeit, da der erste Sozialismus von der Bourgeoisie nicht ernst genommen worden wäre. Einen Popanz bekämpft man nicht. Schon gar nicht mit immensem Aufwand. Das Zum-Popanz-Machen allerdings war kein unwesentlicher Teil ihrer Strategie.
2. Der Sozialismus schränkte die Bedingungen für ungehemmte Kapitalverwertung ein, unterstützte die Kämpfe der internationalen Arbeiterbewegung. Kriege galten zunehmend nicht mehr als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Befreiungsbewegungen gegen koloniale Unterdrückung konnten davon ausgehen, daß hemmungsloses Vorgehen gegen sie nicht möglich ist. Dem Kapital, - vor allem in seinen Basisländern - wurde ein Verhalten aufgezwungen, welches soziale und demokratische Züge trug, die nicht seiner Natur entsprachen.
3. Der vergangene Sozialismus erbrachte den Nachweis, daß die durch die Aufhebung des Privateigentums möglich werdenden Verteilungsprinzipien die Verelendung in historisch kurzer Frist (trotz niedrigerer Arbeitsproduktivität) beseitigen und daher ein - wenngleich oft bescheidenes - Leben, letztlich ohne Deklassierungen und sozialen Rest ermöglichten. Hunger gab es nicht mehr, das Bildungsprivileg wurde gebrochen, die Arbeitslosigkeit im wesentlichen abgeschafft, ein höheres Maß an weiblicher Emanzipation ermöglicht als im ökonomisch ungleich stärkeren Kapitalismus. Und dies aus dem Mangel heraus, der nie wirklich überwunden wurde. Das alles in einer feindlichen Umgebung, die permanent danach trachtete, den Sozialismus wieder abzuschaffen und ihrem Trachten sehr materiellen Rückhalt bot. Der Sozialismus führte, trotz ökonomischer Unterlegenheit, auf Grund der Eigentumsverhältnisse Probleme einer Lösung zu bzw. nahm sie in Angriff, die der Kapitalismus nicht zu bewältigen vermochte und es niemals vermögen wird. Der Sozialismus hatte die soziale Existenzangst abgeschafft. Keiner in der Sowjetunion oder DDR mußte Sorge haben, unter einer Brücke zu landen, weil die Miete unbezahlbar wird. Vor knapp hundertfünfzig Jahren formulierte Friedrich Engels: "Die Befriedigung des Bedürfnisses für Obdach wird einen Maßstab abgeben für die Art, in welcher alle übrigen Bedürfnisse befriedigt werden."
Noch vor zwei, drei Jahren wäre es fast unmöglich gewesen, solche Überlegungen in Ruhe zu äußern. Heute sind die sozialen Erfahrungen - zumindest im Osten - so weit gediehen, daß viele Menschen das selbst erkennen. Wer in Bischofferode war, konnte genau diese Erfahrung machen. Die Bourgeoisie nahm seine nichtsozialistischen Züge zum Anlaß für die Verteufelung des Sozialismus. Tatsächlich galt ihr Haß den schon sozialistischen Bestandteilen der sich entwickelnden Neuen Welt. Der erste Sozialismus hatte sozialistische und nichtsozialistische Züge. Gebildeten Marxisten ist das nichts Neues. Ihnen ist die Marxsche Überlegung aus der Kritik am Gothaer Programm geläufig: "Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft."
Ein Pyrrhussieg
Nun ist die sozialistische Welt zunächst - nicht so ganz von alleine - untergegangen. Zumindest in Europa. Warum erledigt sich da nicht auch der Antikommunismus? Warum "gedeiht" er wie eigentlich nie zuvor? Weil der Sieg über den ersten Sozialismus ein Pyrrhussieg ist. Weil daher dem Kapital die Angst im Nacken sitzt, die Idee vom Sozialismus könne schneller erneut Geltung erlangen als momentan vorstellbar. Geltung nicht primär aus Visionen, sondern aus positiven Erfahrungen, die verschüttet waren unter dem Wust der Niedergangserscheinungen und den demagogischen Versprechungen der Sozialismusfeinde, und die nun zum Vorschein kommen unter dem Druck der ungebremsten Restauration. Das Kapital bestätigte mit der Art und Weise seines Sieges über den Sozialismus ein weiteres Mal das Urteil der Kommunisten über sein System. Es ist die Ironie der Geschichte: der Sozialismus hatte den Kapitalismus gezwungen, sich nie derart zu entblößen, wie er es jetzt tut. Mit dem Verschwinden des verhaßten Feindes verschwinden die "Vorteile" der bürgerlichen Ordnung. Der Feind war echt, die Vorteile vermeintlich. Die sicherste Methode, Menschen von der Einsicht abzuhalten, daß der Sozialismus bei all seinen Schwächen schon eine Chance für Menschheitsfortschritt bot, der Kapitalismus hingegen, so ausgereift er ist, - oder gerade deshalb - nur in den Abgrund führen kann, die sicherste Methode, diese Einsicht zu verstellen, besteht darin, Ressentiments gegen Kommunisten - ob sie nun einst in der DDR wirkten oder in der DKP - so auszubauen, daß die Möglichkeiten ihrer Wirksamkeit an der Mauer des Vorurteils zerschellen. Genau mit dieser Absicht haben wir es gegenwärtig zu tun.
Worin besteht das Wesen des heutigen und hiesigen Antikommunismus? Er zielt auf die totale Infragestellung der Legitimation des vergangenen Sozialismus. Man abstrahiert von seinen konkreten Entwicklungsbedingungen, mißt ihn an eklektizistischen Visionen, und verabsolutiert zugleich alle Erscheinungen nichtsozialistischer Natur. Aus diesen Verabsolutierungen und Vereinseitigungen wird abgeleitet, die Negativseiten des ersten Sozialismus entsprächen dem Wesen des Systems. Hiermit wird konkrete Identität in ihrer Einheit von Identischem und Nichtidentischem einfach geleugnet. Ein solcher Umgang mit dem vergangenen Sozialismus ist Denunziation. Die Denunzianten bedienen sich dabei der auch von zutiefst lauteren bürgerlichen Denkern vertretenen Auffassung, der Mensch sei nun einmal nicht fähig, das Gemeinwohl über sein Ego zu stellen, und somit sei ein sozialistisches System zur Diktatur und daher zur Selbstaufhebung seines beabsichtigten Wesens gezwungen. Diese Argumentation kommt durchaus auch von Menschen, die ehrlich bedauern, daß - ihrer Überzeugung nach - Sozialismus wider die Natur des Menschen sei. Zugleich erscheint dieses Argument in tiefreaktionärer Spielart: der Sozialismus negiere die "Individualität" des Menschen und unterdrücke den "gesunden Wettbewerb", deshalb könne er nicht funktionieren. Zur letztgenannten Position lohnt es sich hier nicht zu polemisieren. Bezüglich der weiter oben genannten Auffassung ist es in Anbetracht aller geschichtlichen Erfahrungen, nicht zuletzt der Niederlage des Sozialismus, nachvollziehbar, warum es sie gibt. Und doch halten wir sie für unrichtig. Wenn es kaum mehr möglich ist, sich der Einsicht zu verweigern, daß das kapitalistische System die Menschheit auf den Abgrund zutreibt, so sollte ein nichtgeglückter sozialistischer Versuch nicht bewirken, eher in Hoffnungslosigkeit zu versinken als Sozialismus ein zweites Mal zu wagen. Eine andere Chance hat die Zivilisation ohnehin nicht.
Das Wesen des Stalinismusbegriffs
Die These, die Negativseiten des Sozialismus entsprächen dem Wesen des Systems, ist die inhaltliche Grundlage der "Stalinismustheorie". Dabei wird eine exakte Bestimmung des Begriffs "Stalinismus" vermieden. Wir müssen davon ausgehen: Wer einen Begriff unentwegt verwendet, ohne ihn korrekt zu definieren, will etwas anderes, als die präzise Charakterisierung eines Zustandes oder Prozesses.
Das Wesen des Stalinismusbegriffs besteht in seiner Benutzung a) gegen die Übernahme der Macht und deren Anwendung zur Lösung der sozialen Frage, b) gegen die Legitimität kommunistischer Überzeugungen.
Indem die in der Periode Stalins geschehenen Verbrechen letztlich zum maßgeblichen Bewertungskriterium des ersten Sozialismus gemacht werden und auch die Zeit danach als von reiner Machtpolitik beherrscht charakterisiert wird, indem stets aufs neue verlangt wird, der Begriff Stalinismus dürfe nicht auf die Gesetzesverletzungen in den dreißiger und vierziger Jahren der Sowjetunion beschränkt bleiben, sondern müsse als primäre Systemcharakteristik von etwa 1924 bis zur Niederlage des Sozialismus Anwendung finden, wird faktisch die gesamte Geschichte des bisherigen Sozialismus als eine Kette von Verbrechen und Willkür dargestellt. Die Reduzierung des ersten Sozialismus auf diese Seite und die Behauptung, in dem daraus assoziierten Sinne sei Sozialismus ein stalinistisches Modell gewesen, impliziert den Schluß, dieses System gehörte abgeschafft. Denn wer sollte - ohne sich selbst zu diskreditieren - einer Ordnung etwas abgewinnen, die in der Substanz verbrecherisch gewesen sein soll und zumindest immer machtpolitisch diktatorisch. Diese Betrachtung ist die vollständige Denunziation nicht nur des sozialistischen Versuchs, sondern zugleich der kommunistischen Idee, ihrer wissenschaftlichen Grundlage und ihrer Anhänger selbst.
Hier treffen sich Rechtskonservatismus und jene, die sich als Verfechter des "wahren Sozialismus" empfinden oder auch nur ausgeben; die jedoch aus Angst vor vielleicht sich wiederholenden Fehlern in einem zukünftigen Sozialismus die herrschenden Kapitalverhältnisse als vergleichsweise demokratisch preisen und meinen, in ihnen würde sich die Machtfrage doch noch nach den Prinzipien der Aufklärung lösen.
Jene, die durchaus bereit zu sein scheinen, positive Seiten des Sozialismus anzuerkennen und zugleich - zum Beispiel auf die DDR bezogen - vom stalinistischen Modell reden, betreiben - objektiv gesehen - politische Scharlatanerie. Sie wissen: würden sie die von ihnen als stalinistisch bezeichnete DDR von Grund auf ablehnen, so verlören sie ihre politische Basis. Auch die Wähler also. Indem sie sie als stalinistisch bezeichnen und ihr dennoch einiges brauchbare zugestehen; indem sie heute sagen, die DDR sei niemals sozialistisch gewesen, vorgestern feststellten, dieselbe habe ein Korrektiv zur Bundesrepublik dargestellt, und morgen vielleicht zur Behauptung gelangen, die DDR hätte nie gegründet werden dürfen, beschwichtigen sie wechselseitig alle und jeden. Es ist apeasement-Politik in ideologischer Hinsicht. Sie wird den Linken ebenso wenig bringen wie Beschwichtigungen anderer Zeiten. Denn: dieser eklektizistische Umgang mit Geschichte bedient die Totalitarismusdoktrin mit deren Quintessenz der Gleichsetzung von Faschisten und Kommunisten.
Dies allerdings ist offener Antikommunismus. Wer ihm zuarbeitet, macht sich schuldig, ob er das will oder nicht.
2. Teil
Über Sachfragen streiten
Man muß kommunistische Überzeugungen nicht teilen. Aber man sollte es sich doch angewöhnen, mit Kommunisten über philosophische, ökonomische und politische Sachfragen zu streiten, über linke Strategien also, anstatt sie als Stalinisten abzustempeln, nur weil sie meinen, die Menschheitsprobleme seien nicht lösbar ohne die Entscheidung der Macht- und Eigentumsfrage, ihnen altes Denken vorzuwerfen, nur weil ihnen die Niederlage des ersten Sozialismus kein Grund ist, Sozialdemokraten zu werden, ihnen Profilierungssucht zu unterstellen, nur weil sie sich allgemeiner linker Positionsverwässerung nicht anpassen wollen.
Aber genau diese Auseinandersetzung zu Sachfragen findet nicht statt. Und es ist nur logisch, da sie ja auch nicht oder kaum hinsichtlich des vergangenen Sozialismus geführt wird. Er war stalinistisch - dies steht ja wohl fest. Wer das anerkennt, darf Geschichte "glaubwürdig aufarbeiten". Wer sich diesem Prinzip verweigert, ist - natürlich Stalinist. Dies ist "moderne" Apologetik, und Apologetik hat die sozialistische Bewegung schon viel gekostet. Kommunistische Überzeugungen werden als "ideologische Glaubenssätze" abgetan, der Wunsch nach strategischer Auseinandersetzung mit der dafür gewählten Bezeichnung "Glaubenskrieg" der Lächerlichkeit preisgegeben. Es wird der Gegensatz konstruiert zwischen theoretischem Streit und praktikabler Vertretung von Interessen der Menschen. Ja welcher Menschen denn, kann und muß da gefragt werden, und schon sind wir wieder beim Theoriebedarf. Nein, wir verweigern uns der Kleinarbeit nicht, von der Tagespolitik wesentlich lebt. Wir wissen, daß es Glaubwürdigkeit in der Politik nur gibt, wenn gemäß der konkreten Interessenlagen jener gearbeitet wird, die in einer Partei oder Bewegung eben ihre politischen und sozialen Interessen bündeln wollen. Uns geht es vielmehr um die Einheit von tagespolitischer Interessenvertretung und der Benennung der Ursachen für die Interessenlagen. Wir wollen den praktischen Kampf bei klarer Benennung, gegen wen er geführt wird, und bei zunehmend ausgearbeiteten Vorstellungen, - nicht zuletzt ausgehend von Vergangenheitsanalyse - wofür wir antreten und wofür eben auch nicht. Auf diese Positionsbestimmungen zu verzichten, bzw. auf die ernsthafte Suche nach diesen Inhalten, hieße, auf Identität zu verzichten. Denn keiner wird auf Dauer leben können mit der Identität, sich als links von anderen Identitäten einzuordnen.
Antikommunistische Linke?
Die Angst, kommunistische Sichten als zumindest ernsthafte Herangehensweise zu akzeptieren, ist das sicherste "Unterpfand" für antikommunistische Erfolge unter Linken. Aber - antikommunistische Linke gibt es nicht. Antikommunisten landen immer auf der Gegenseite von links, und meist so gründlich, daß rechts von ihnen nur noch die Wand ist. Denn: Die bloße Denunziation des vergangenen Sozialismus und somit faktisch des dialektischen und historischen Materialismus schließt zwingend fast schon die Verharmlosung des Profitsystems ein. Plötzlich scheint der Kapitalismus das kleinere Übel zu sein. Aus auch mißbrauchter Macht wird der Verzicht auf Macht generell abgeleitet. Jene Verbrechen, die aus Abwesenheit von sozialistischer Macht geschehen, werden nicht mit der emotional aufpeitschenden Abscheu behandelt, die sogleich zur Stelle ist, wenn eigene Geschichte debattiert wird. Aus ungenügend bewältigter Dialektik von Zentralisation und Dezentralisation wird - zumindest verbal - die Ablehnung jeglicher Zentralisation. (Man weiß ansonsten schon zu zentralisieren, wo es nützt, so wie Gorbatschow, der unentwegt gegen Machtmißbrauch wetterte und seine persönlichen Befugnisse adäquat zum Wettern erweiterte.) Hieraus folgt des Pudels Kern: Wer generell die Machtfrage umgeht und die Zentralisation verteufelt, kann die Eigentumsfrage nicht stellen. Sie nicht zu stellen, bedeutet allerdings, den Kapitalismus als die letzte Antwort der Geschichte zu akzeptieren. Da kann ruhig anderes behauptet werden. Nun sind wir nicht etwa der Auffassung, die Machtfrage stünde auf der politischen Tagesordnung. Worum es uns geht, ist, die Grundfragen nicht länger zu umgehen. Und es geht darum, bezogen auf die Perspektive heute zumindest zu sagen, daß auf die Dauer bei Beibehaltung des machtpolitischen Status quo eine grundsätzliche Änderung der Gesellschaft und somit die Rettung der Zivilisation nicht möglich sein wird. Was die Machtfrage anbetrifft, so verstoßen wir sicherlich nicht gegen die "freiheitlich-demokratische Grundordnung", wenn wir Hans A. Pestalozzi zitieren, der nach 25 Jahren Management und nach fünfzehn Jahren Leitung eines internationalen Managementinstituts schreibt: "Die Krise der Neuzeit ist keine Krise der Wahrnehmungen, keine Krise des menschlichen Bewußtseins. Es sind nicht versteckte Denkmuster und Gefühlsstrukturen, die unser heutiges verhängnisvolles Handeln nach sich gezogen haben, sondern es sind gewollte Denkmuster und Gefühlsstrukturen. Die Herren, die an der Macht sind, wollten es so. Sie wollten es so, wie es heute ist, und wollen, daß es so bleibt, wie es ist. Verändern können nur wir selbst. Es ist keine Frage der kosmischen Konstellation. Es ist ein Kampf gegen die Herren der Macht."
Der programmatische Verzicht linker Kräfte auf die Änderung des Status quo durch die letztliche Lösung der Macht- und Eigentumsfrage erhöht objektiv die Chancen für Antikommunismus, den mehr verdeckten allerdings. Der Unterschied zwischen dem offenen bewußten Antikommunismus und den verschiedenen Arten ihn - sicher oft ungewollt - zu bedienen, besteht darin, daß letztere in der Beurteilung des vergangenen Sozialismus die Utopien gelten lassen. Meist gleich mit dem Hinweis verbunden, sie dürften nicht zur Infragestellung alles Bestehenden führen.
Die Strapazierung des Utopiebegriffs
Die unendliche Strapazierung des Utopie-Begriffs nimmt einen festen Platz im Instrumentarium gegen konsequent antikapitalistisches Linkssein ein. Objektiv ist die Zeit lange dahin, da Kapitalismuskritik auf idealistische Projekte angewiesen ist, die "politische Formen von ihren gesellschaftlichen Unterlagen trennen und sie als allgemeine abstrakte Dogmen hinstellen". (Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 247) Es zeugt von kurzem Atem, wenn die Niederlage des ersten Sozialismus von Linken damit identifiziert wird, daß Sozialismus erst gar nicht machbar sei und das Ziel, soziale Gerechtigkeit zu erlangen, wieder in einen bloßen schönen Traum zurückverwandelt wird. Dies häufig mit der sinnigen Begründung, soziale Gerechtigkeit könne es auf Erden nicht geben, da es sie noch nie gegeben habe. Damit wir nicht mißverstanden werden, die Niederlage des Sozialismus nicht zum Ausgangspunkt unbestechlicher Analyse für die Ursachen hierfür zu machen, wäre sträflich. Gerade, weil es gilt, ein Jahrhundertwerk zu beurteilen, für das Millionen mit Überzeugung in den Tod gingen und in welches das persönliche Schicksal eines jeden von uns verflochten ist. Die Analyse wird jedem, der aufrichtig für den Sozialismus arbeitete, auch Schmerz zufügen. Nur: Zu welchen Urteilen und Schlüssen es auch kommen mag, alle Erfahrungen und Tatsachen sprechen dafür, daß es keine Alternative zur Aufhebung des Profitsystems gibt, wenn die Menschheit überleben soll. Die Eigentumsfrage hat sich mit dem Untergang des ersten Sozialismus daher nicht erledigt, sie steht zwingender auf der Tagesordnung denn je. Die Nachrichtengebung jedes neuen Tages belegt dies alarmierend. Und: Die Kapitalverwerter werden aller Voraussicht nach nicht freiwillig abtreten, aus Vernunftgründen sozusagen. Dies ist kein altes Denken, sondern, das sogenannte neue Denken war vielmehr bar jeden Realismus, wo es versuchte, diese Tatsachen aus der Politik hinauszuleugnen.
Zurück zu den abstrakten Utopien. Sie sind nicht nur unverbindlich für linke Politikstrategie, weil von jeder Realität abgehoben. Sie verstellen auch im Umgang mit vergangenem Sozialismus die Möglichkeit, objektive Maßstäbe anzulegen. Denn: Mißt man den gesamten ersten Sozialismus an utopischen Projekten, so bleibt auch nichts von dem, was an ihm von Wert war. Auch deshalb nicht, weil dieses Messen an Visionen mit der Unterstellung einhergeht, all das, wofür Sozialisten antraten, müßte in kürzester Zeit erreicht worden sein. Am Umgang mit der Eigentumsproblematik und dem Freiheitsbegriff soll verdeutlicht werden, was wir meinen. Marx und Engels ließen keinen Zweifel daran, wie zunächst die Eigentumsfrage gelöst werden sollte: "Die nationale Zentralisation der Produktionsmittel wird die natürliche Basis einer Gesellschaft werden, die sich aus Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen Plan bewußt tätiger Produzenten zusammensetzt." Oder: "Die sogenannte
Ein zweites Beispiel für die Elle selbstgeschneiderter Maßstäbe, von denen dann behauptet wird, es seien die verbindlichen, ist der Umgang mit der Kategorie Freiheit und daher auch mit dem Begriff Demokratie. Marx schreibt: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeiten bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion." Es gibt ungezählte andere Ausführungen der Klassiker zu Freiheit und Demokratie, die die historische Determiniertheit auch dieser Kategorien behandeln. Nirgendwo findet sich bei ihnen, der Sozialismus habe von Anfang an das Reich der Freiheit zu sein. Tut nichts. Für manche erschöpft sich diese ganze Problematik in dem unermüdlichen Wiederholen des völlig aus dem Kontext gerissenen Manifestzitats über die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller.
Wir meinen, gemessen werden muß an den ursprünglichen Maßstäben. Das wird schon genügend wehtun. Im Nachhinein die Maßstäbe aus der Wundertüte zu ziehen, um dann an solchen gemessen, zudem jede Determiniertheit leugnend, die Kläglichkeit der Praxis nachweisen zu wollen, ist gelinde gesagt unseriös.
Fazit: Die Denunziation des vergangenen Sozialismus besteht aus den berühmten zwei Seiten einer Medaille. Die rohen, unreifen und auch nichtsozialistischen Züge des ersten Sozialismus werden verabsolutiert und fürs Ganze genommen. Hier nähert man sich der Totalitarismuskonzeption und gibt sich zugleich noch fortschrittlich, indem man diese Konzeption dann doch ein bißchen kritisiert. In gleichem Atemzug mißt man jene Züge des sozialistischen Versuchs, die eindeutig positiven Charakter hatten, an utopischen Konstrukten und "weist" so nach, daß auch nichts taugte, was etwas wert war. So wird der Eindruck vom völligen Verrat an den sozialistischen Idealen erzeugt. Dies ist identisch mit der indirekten Abkehr vom wissenschaftlichen Sozialismus. Die Verleugnung jeglicher sozialistischer Charakteristika des sozialistischen Versuchs stellt die Erkenntnisse von Marx, Engels und Lenin vollständig in Frage. Wenn vom Ganzen nichts bliebe, und die Praxis der Prüfstein für die Richtigkeit der Theorie ist, dann müßte auch die Theorie verfehlt gewesen sein. Es scheint uns folgerichtig, daß Marx immer häufiger mit Jesus verglichen wird. Utopisten machen ihn zum Heiligen mit ehernen Zielen ohne irdische Realisierungschance. Die Infragestellung des wissenschaftlichen Weltbildes jedoch macht die Linke zu einer Bewegung unter vielen, die ihres wesentlichsten Kampfmittels beraubt ist.
All diese Bestandteile der völligen Infragestellung der Legitimation des vergangenen Sozialismus, seine umfassende Denunziation, finden sich in der Politik von Perestroika und Glasnost. Man kann vielleicht zugespitzt formulieren: Die Politik Gorbatschows war - wurde es zumindest irgendwann - Antikommunismus unter dem roten Banner mit Hammer und Sichel. Diese Aussage bedeutet nicht, daß es in der Sowjetunion hätte weitergehen können wie vor dem Jahre 1985. Sie bedeutet auch nicht, daß man die Niederlage des Sozialismus Gorbatschow, Schewardnadse, Jelzin, Jakowlew und Konsorten allein anlasten könnte. Wer in so kurzer Zeit so Verheerendes anrichten kann, muß die Bedingungen hierfür vorgefunden haben. (Es ist wohl heute nicht mehr fragwürdig, für die obengenannten Personen die Charakteristik Konsorten zu wählen. Das Schöne am Leben ist, daß es funktioniert wie Gottes Mühlen. Sie mahlen langsam. Aber sie mahlen.) Alles bei Gorbatschow lief unter der Überschrift des Neuen Denkens. Nach neuen Konzepten zu suchen, heißt nun allerdings zweierlei bestimmt nicht:
- alle Erfahrungen und Errungenschaften mit Schimpf und Schande über Bord zu werfen,
- sich bei jenen anzubiedern, die für den Sozialismus keine neuen Konzepte wollten, sondern die Wiederherstellung des Kapitalismus, so wie sie sich nun vollzieht.
Der Antikommunismus und seine Kronzeugenregelung
Doch der Antikommunismus bedient sich nicht nur seiner tradierten Quellen und Formationen. Er hat nun auch die Kronzeugenregelung. Wer am sozialistischen Versuch beteiligt war und heute bereit ist, gegen ihn auszusagen, kann nicht nur - im Regelfalle - für sich persönlich sozial zuversichtlicher sein, sondern, er ist außerdem noch ein moderner Mensch. Denn es ist moderner, einem System die Überlegenheit zuzugestehen, das seit über vierhundert Jahren die Menschheitsprobleme nicht löst, sondern zunehmend verschärft, als dem schwächeren und daher untergegangenen System zu bescheinigen, daß es eine Alternative gewollt hat und eine solche - durch seine bloße Existenz fast schon - als Synthese von Realität und Möglichkeit auch war. Die Kronzeugen rufen: Nie wieder Verantwortung, die schwere Entscheidungen verlangt, und verzichten so im Namen der Politik der allumfassenden Schadensbegrenzung und der schmerzstillenden Mittel darauf, zumindest den Versuch zu unternehmen, die Menschen über die Systemursachen für ihre gegenwärtige Lage aufzuklären und in den Kampf zu führen. Die Konsequenzen dieser Stillhaltepolitik liegen auf der Hand. Die Frustration über die gesellschaftlichen Zustände wird ihre Entsprechung in zunehmend anarchischen Zuständen finden, und die kapitalistische Antwort auf Anarchie kann neuer Faschismus sein, in welcher Modifikation auch immer. Dies ist keine krankhafte Phantasie, dies kündigt sich vielmehr krankmachend an. Bewußter Widerstand gegen das kapitalistische System ist daher auch konsequenter Antifaschismus. Doch all dies ist unmöglich ohne die Überwindung der antikommunistischen Tendenzen in den Reihen der Linken selbst.
(September 1993)
Quelle: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS, Heft 10/1993, S. 1-5 (Teil 1), Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS, Heft 11/1993, S. 6-12 (Teil 2). Außerdem erschienen in einer Sonderbeilage der UZ - Zeitung der DKP.